Betrachten
Das Betrachten ist ein aufmerksames und denkaktives Schauen in ruhende Objekte wie Bilder, Objekte, Präparate oder Modelle. Am Anfang steht das emotionale Wirkenlassen und das Staunen über die Schönheit der Natur. Der Ursprung für diese Zugangsweise ist bereits bei den antiken Philosphen zu finden, so auch bei Aristoteles und Platon. Das gedankenvolle Sinnen und Träumen führt zu einem Nachdenken über die Dinge. Der staunende Mensch ist ganz bei den Dingen und bei sich selbst.
 
Diese Grundhaltung ist auch bei dem Pädagogen Martin Wagenschein zu finden: Am Anfang seines Unterrichts steht eine die Spontanität des Lernenden herausfordernde Staunensfrage oder ein Phänomen. Dies führt zu einer intensiveren Betrachtung und Beschäftigung mit dem Objekt. Es entsteht eine Fragehaltung, in deren Prozess mögliche Erklärungen gefunden werden. Das Begreifen von höheren, gesetzmäßigen Zusammenhängen löst ein höheres Staunen über das Wunderwerk der Natursysteme aus.
 
 
Beispiele

Auf der Blüte des Frauenschuhs lebt eine Spinne, die den anfliegenden Insekten auflauert. Die "Veränderliche Krabbenspinne" (Misumena vatia) hat sich ganz an die Farbe der gelben Orchideenblüte angepasst.
 

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Das Betrachten dieses Bildes wirft eine ganze Reihe an Fragen auf, zum Beispiel:

  • Warum ist die Spinne gleich gefärbt wie die goldgelbe Lippe?
  • Wie kommt diese Färbung zustande?
  • Welche Funktion hat die Lippe des Frauenschuhs?
  • Warum ist die Lippe des Frauenschuhs gelb gefärbt?

Vertiefende Erkenntnisse werden gewonnen, wenn die Lockmittel der Pflanzen zur Bestäubung miteinander verglichen werden. Dabei spielen vor allem Düfte, Farben und Formen eine Rolle, beispielsweise bei der Fliegen-Ragwurz:


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Die Fliegen-Ragwurz imitiert das Aussehen weiblicher Fliegen


Beim Aronstab werden Fliegen durch einen Aasgeruch angelockt und stürzen in den glatten, ölbeschichteten Kessel der Blüte. Während beim Aronstab die Fliege überlebt, sind die fleischfressenden Pflanzen auf die Insekten als Nahrung aus. Ein besonders raffinierte Metamorphose stellen die Fangblätter der fleischfressenden Pflanzen dar. In den mitteleuropäischen Mooren findet man eine kleine unscheinbare Pflanze: Der Sonnentau lockt seine Opfer durch einen betörenden Duft an. Gelangt eine Fliege auf die mit einem klebrigen Sekret besetzten Tentakel seiner Fangblätter, kommt sie nicht mehr weg und stirbt durch Erschöpfung oder durch das Sekret, das in ihre Tracheen eindringt. Die Tentakel des Sonnentaus sondern dann Enzyme ab, die die Beute zersetzen, so kommt der Räuber an die Nährstoffe der Fliege.


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Rundblättriger Sonnentau


Bei der zu den Sonnentaugewächsen gehörenden, nordamerikanischen Venusfliegenfalle sind zwei Blätter zu einem Fang-Klappmechanismus umgewandelt. Die Ränder der Fangblätter weisen lange spitze Borsten auf. Bei Berührung der Fühlhaare an der Innenseite der Blätter klappen die Hälften zusammen, und das Insekt ist gefangen. Beim europäischen Sonnentau sind die Blattflächen mit klebrigen Drüsenhaaren besetzt, die die Insekten festkleben.


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Venus-Fliegenfalle


In der Natur, in botanischen Gärten, aber auch in Filmen lassen sich die Vorgänge in zeitlicher Abfolge beobachten. Betrachten und Beobachten hängen als fachspezifische Arbeitsweise eng miteinander zusammen. Während das Betrachten eher bei ruhenden Objekten (beim Mikroskopieren einer Vogelfeder) im Vordergrund steht, werden beim Beobachten zeitliche Vorgänge wahrgenommen (beim Beobachten des Vogelfluges).
 
Vor einer Einführung in das Mikroskopieren betrachten die Schülerinnen und Schüler den Mikrokosmos mit Hilfe einer Lupe. Sie wandern in der Natur und sehen die Welt aus einer anderen Perspektive. In einer nächsten Stufe rekonstruieren sie die Wirklichkeit und beschreiben die betrachteten Merkmale. Sie beschreiben das Gesehene, sie werfen Fragen auf, sie verbalisieren, sie zeichnen und sie schreiben Erlebnisberichte.



Copyright: Thomas Seilnacht